Montag, 24. August 2015

Internet als Medresse des 21. Jahrhunderts

Der nigerianische Autor und Nobelpreisträger Wole Soyinka geisselt Boko Haram. Er verbindet seinen Bericht über die bedrohten Bildungsinstitutionen in seiner Heimat an der jährlichen Tagung der Nobelpreisträger in Lindau mit einem leidenschaftlichen Plädoyer zur Verteidigung menschlicher Grundwerte. Zweiter Teil.

Das kompromisslose Pflichtgefühl gegenüber dem eigenen Glauben, das diesen Jugendlichen eingeimpft wurde (siehe erster Teil), räumt jeden Zweifel, jede Zurückhaltung, jedes Zugeständnis ans Lebensrecht Andersgläubiger aus. Es gibt nur einen Weg – der Rest ist haram. Der wahre Glaube muss verbreitet werden, mit allen Mitteln, und koste es, was es wolle: Das ist göttliches Gebot. Kein Wunder, dass die Welt mit Staunen auf das scheinbare Paradox blickt, dass die derzeit wohl primitivste Ausdrucksform von Spiritualität sich äusserst geschickt modernster Technologien zu bedienen weiss: Das Internet ist zur virtuellen Medresse des 21. Jahrhunderts geworden. Und allenthalben fragen sich die Soziologen, warum so viele junge Menschen, die im liberalen geistigen Klima moderner Gesellschaften aufgewachsen sind, sich unter der schwarzen Flagge der Jihadisten scharen. Erst allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Internet – Ironie des Fortschritts – auch Vehikel der Regression sein kann.

Nicht nur bei uns in Nigeria, sondern weltweit flösst der Name «Boko Haram» mittlerweile Entsetzen und Angst ein. Der Name sagt eigentlich alles, denn bekanntermassen ist er eine korrumpierte Variante von «The book is haram»: Bücher sind verboten, natürlich mit Ausnahme des einen – des Korans. Und Bücher stehen hier für alles andere: für Wissen, Kultur und Kulturerbe, gesellschaftliche Lebens- und Umgangsformen, Wissenschaft und Technologie, die Künste – kurz, für so ziemlich jede geistige Tätigkeit, die jenseits der Beschäftigung mit einem korrumpierten Religionsverständnis liegt. Als Boko Haram ihre Geissel über Nordnigeria erhob, waren Schulen die ersten Ziele. Schliesst die Schulen, hiess es; Eltern, behaltet euren Nachwuchs zu Hause, schickt die Kinder nicht zum Unterricht. Lehrer, hängt euren Beruf an den Nagel. Boko Haram attackierte Hochschulen und Lehrkräfte; auch landwirtschaftliche Fachschulen waren betroffen, obwohl man hätte annehmen dürfen, dass wenigstens diese verschont würden, da sie doch im Dienst eines universalen Grundbedürfnisses stehen. So wurden im Herbst 2013 vierundvierzig Studenten und Lehrer des College of Agriculture in Gujba bei einem nächtlichen Überfall der Jihadisten massakriert.

Allerdings schienen Hochschulen in den Augen von Boko Haram nicht die eigentliche Brutstätte der Sünde zu sein; vorab waren vielmehr Primarschulen von den Übergriffen betroffen. Die Täter kamen zu nächtlicher Stunde, wenn die Schulgebäude leer standen, und setzten sie in Brand: Das waren, vor fünf, sechs Jahren, die ersten, damals noch vereinzelten Warnsignale. Als die Bewegung breiter und damit kühner wurde, machte sie das Lernverbot zum Programm und begann, grausigere Exempel zu setzen. Ihre Anhänger lauerten Lehrern und Schülern auf, fesselten sie und schnitten ihnen die Kehle durch – Ähnliches hört man auch von den Shabab-Milizen in Somalia.

Unnötig zu sagen, dass zudem Kirchen und andere nichtislamische Glaubensstätten im Visier der Fanatiker standen; mit der Zeit wurden sogar Moscheen attackiert, denn auch im Islam gibt es konkurrierende Mächte, Glaubensformen und Praktiken. Aber der eigentliche Dorn im Auge der Fundamentalisten schienen die Bildungsinstitutionen zu sein. Denn Bildung hinterfragt die Macht, welche die mystische Aura der Religion verleiht. Bildung ist ein Arsenal, dessen Inhalt die Offenbarungen des heiligen Texts in die Luft jagen könnte.

Aber Bücher, Laboratorien und Schulen sind nicht unzerstörbar. Und als es keine Schulen mehr abzufackeln gab, als die Lehrer geflüchtet oder in der Gesellschaft untergetaucht waren, als für sie und ihre Schüler das schiere Überleben zum einzig erstrebenswerten Lerninhalt geworden war – da begann das allgemeine Abschlachten, denn Menschen sind ja nicht nur Erzeuger und Nutzer, sondern auch Vektoren des Buchwissens. Die Logik ist unbarmherzig: Auch der Bauer, die Marktfrau, der Arbeiter – jedes menschliche Wesen, das sich nicht der rechten Lehre beugt, ist kontaminiert und darf, ja muss durch Feuer und Blut gereinigt werden.

Ich habe das schulische Milieu geschildert, das zu solchen mentalen Deformationen führt. Viele Jihadisten sind vom Geist der Medresse geprägt, der, wie angedeutet, nicht nur in den gleichnamigen Institutionen, sondern auch übers Internet Verbreitung findet. Manche von ihnen sind Immigranten der ersten oder zweiten Generation, die in Gesellschaften leben, deren Werte sie ablehnen und die in ihren Augen moralisch lax, dekadent, sogar blasphemisch sind. Sie wähnen ihre Seele in Gefahr und entfremden sich zunehmend der Gesellschaft des Gastlandes; werden sie hinlänglich indoktriniert, sind sie bereit, diese Gesellschaft in Stücke zu reissen. Das ist längst bekannt – aber ich möchte behaupten, dass hierzulande diesem Prozess unwillentlich noch Vorschub leistet wird.

aus dem Englischen übersetzt von as.


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