Montag, 17. August 2015

Schulen zwischen Urwald und Eton

Wir beginnen das neue Schuljahr mit einigen grundsätzlichen Überlegungen in einer fünfteiligen Serie. Der nigerianische Autor und Nobelpreisträger Wole Soyinka geisselt Boko Haram. Er verbindet seinen Bericht über die bedrohten Bildungsinstitutionen in seiner Heimat an der jährlichen Tagung der Nobelpreisträger in Lindau mit einem leidenschaftlichen Plädoyer zur Verteidigung menschlicher Grundwerte. Erster Teil.

Ich wurde nach Lindau eingeladen, um über Bildung in Afrika zu sprechen, und deshalb möchte ich Sie als Erstes zu einigen Bildungsstätten führen. Fangen wir mit der exotischsten an – folgen Sie mir bitte in die Wälder nahe meiner Heimatstadt Abeokuta. Wir entdecken die Fährte eines Tiers, die uns überraschenderweise zum Rudiment einer menschlichen Behausung führt. Das Dach ist über den windschiefen, innen wie aussen völlig überwucherten Wänden eingebrochen, aber irgendwo findet sich ein Durchschlupf, und – wer hätte das gedacht – wir stehen auf einem zementierten, wenn auch arg mitgenommenen Boden, um uns grob gefertigte Stühle, Bänke, Pulte und eine Wandtafel. An die Wand sind ein paar Zeitungsausschnitte gepinnt, im Pult findet sich noch ein Klassenbuch.

Keine Frage, das war einst ein Klassenzimmer. Einst? Ein Blick auf die Zeitungsausschnitte macht klar, dass hier vor knapp drei Wochen noch unterrichtet wurde. Natürlich. Es sind Ferien, die Regenzeit ist angebrochen, und wo das himmlische Nass seinen Weg auch durch löchrige Dächer, Fenster und Türen findet, wächst das Unkraut schnell.

Gewiss, das ist ein extremes Beispiel, aber für seine Wahrhaftigkeit stehe ich als Augenzeuge ein. Ich bin gern im Wald unterwegs und stosse dabei immer wieder auf solche verlassene Schulräume. Und in vielen Regionen Afrikas nimmt ihre Zahl zu – besonders natürlich in Kriegsgebieten, aber auch in solchen, die sich nicht in einem offenen Konflikt befinden, sondern vielmehr doktrinären Ideologien unterworfen sind.

Wenden wir uns lieber einem menschenwürdigeren Szenario zu, das ebenfalls gut vertreten ist – Schulen, deren Angebot durchaus über der erwartbaren Norm liegt. Ich meine Schulen mit Bibliotheken und Laboratorien, wo die Schüler experimentieren und erfinden können. Ich meine Schulen wie diejenige im westnigerianischen Staat Osun, die einen für schulische Bedürfnisse massgeschneiderten Laptop entwickelt hat, der im ganzen Staat verbilligt abgegeben wird. Das Gerät ist mit Daten aus dem nationalen und lokalen Curriculum geladen, liefert aber auch zusätzliche Informationen mit klarem Schwerpunkt auf afrikanischen Themen. So erdet das Gerät die Schülerinnen und Schüler in ihrer eigenen Kultur und öffnet ihnen gleichzeitig den Horizont der neuesten wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen.

Und weiter zu unserem dritten Schauplatz. Ein grösserer Kontrast zum ersten liesse sich kaum denken – hier haben wir es mit einer Art Transplantat der Eliteschule Eton, mit einem Exempel grotesker Entfremdungs-Psychologie zu tun. Auf afrikanischem Boden ist dies eine exotische Welt: Krawatten, wollene Blazer unter tropischer Sonne, eine Mini-Uno von Lehrkräften aus England, Indien, Frankreich, Deutschland usw. Ein Cricket-Feld mitsamt einem makellosen Pavillon für die elektronische Anzeigetafel. Rasen wie vom Friseur geschnitten. Ein grosszügiger Swimmingpool. Und was erspähen wir da in der Ferne? Tatsächlich: Reitpferde. Auch das gibt es – und zwar ebenfalls in Abeokuta. Diese Eliteschulen sind natürlich privat, und es ist ein offenes Geheimnis, dass manche von ihnen sich in der Hand ebenjener einstigen Staatsoberhäupter befinden, die den anhand des ersten Beispiels illustrierten Niedergang des nigerianischen Schulwesens mitzuverantworten haben.
Es gibt noch ein weiteres Schulmodell – eines, das in der deplorablen Entwicklung des Schulwesens mancherorts ebenfalls eine Rolle gespielt und insbesondere die eingangs geschilderten Zerfallserscheinungen befördert hat. Es ist dies die Medresse – ursprünglich eine islamische Variante der Primarschule, die weitgehend auf das Auswendiglernen setzt. Die Schüler lernen den Koran aus dem Kopf zu rezitieren, sie studieren das Leben und die Tugenden ihres Propheten Mohammed und seine in den Hadithen festgehaltenen Aussprüche und Lehren; sie lernen, was laut diesen Lehren erlaubt und was verboten ist und worin die jedem guten Muslim auferlegten Pflichten bestehen.

Früh lernen die Schüler auch, dass dem Lehrer absoluter Gehorsam geschuldet ist; dafür fühlen sie sich geborgen und beschützt. Es besteht eine enge, für Aussenstehende nicht ohne weiteres verständliche Beziehung zwischen Schüler und Lehrer; in einem Alter, da das Kind noch gänzlich formbar ist, bilden die Lehren des Mullah seine eine, existenzielle Wirklichkeit. Ich bin in der Nachbarschaft einer solchen Schule aufgewachsen und erinnere mich, dass mich Neid beschlich, wenn ich die Kinder im Chor antworten und rezitieren hörte: Es lag etwas Einschläferndes, fast Hypnotisches in den Stimmen, die durch die träge Nachmittagshitze herübertönten, und manchmal stimmte ich in den Chor ein, ohne zu wissen, was die Worte und Phrasen überhaupt bedeuteten.

Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass diese Medressen nicht mit Koranschulen gleichzusetzen sind. Ich ging auf eine christliche Missionsschule, die auch von muslimischen Schülern besucht wurde; diese hatten zwar am Abend oder am Wochenende zusätzlichen Unterricht in der Koranschule, wo sie in religiösen Dingen unterwiesen wurden, aber sie durchliefen ein normales schulisches Curriculum. Die Schüler der Medressen hingegen verlassen diese Institution – ob das nun beabsichtigt ist oder nicht – in einer Art geistiger Versklavung. Sie haben nur eine äusserst limitierte Vorstellung davon, was Lernen, was Bildung bedeutet. Sogar Erziehungsministerien in muslimischen Ländern haben mittlerweile erkannt, dass ein Gutteil der Fusssoldaten und der Bannerträger des radikalen Islamismus aus diesem Milieu stammt.

aus dem Englischen übersetzt von as.


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