Montag, 14. September 2015

Der Traum von Utopia

Der nigerianische Autor und Nobelpreisträger Wole Soyinka geisselt Boko Haram. Er verbindet seinen Bericht über die bedrohten Bildungsinstitutionen in seiner Heimat an der jährlichen Tagung der Nobelpreisträger in Lindau mit einem leidenschaftlichen Plädoyer zur Verteidigung menschlicher Grundwerte. Vierter Teil.

Diese Funktion (Normen in Frage zu stellen, siehe dritter Teil) können alle Glaubensbekenntnisse, alle Ideologien erfüllen. Auch der Marxismus war zu seiner Zeit ein Glaube, der es dem unruhigen Geist der Jugend erlaubte, das Bestehende in Bausch und Bogen und ohne kritische Differenzierung von sich zu weisen. Man glaubte, das kapitalistisch-liberale Gesellschaftssystem als eigentlichen Abgrund der Dekadenz, der intellektuellen Disziplinlosigkeit und der Verdammnis zu erkennen, und sonnte sich stattdessen in der utopischen Vision einer klassenlosen Gesellschaft. Sogar hoch gebildete, scharfsinnige Köpfe gerieten in den Bann dieser Utopie und glaubten sich berufen, das Paradies auf Erden zu schaffen; manche zimmerten sich tatsächlich entsprechende Nischen zurecht, von denen aus sie mitleidig und überheblich auf den «unerleuchteten» Rest der Welt und deren unselige Bewohner herunterblickten. Und es gab auch einige, die sich mit Leib und Seele dem Dienst an ihrer Vision verschrieben und gewalttätige Missionen unternahmen – im Glauben, dass nur die Zerstörung des Gegenwärtigen den schimmernden Horizont der Zukunft freimachen könne.

Die zuvor verwendeten Begriffe – «Paradies», «Mission» – sind nicht zufällig gewählt. Die emotionale Leidenschaft des «fundamentalistischen» Marxismus war dem, was uns heute in Gestalt einer morbiden religiösen Ideologie gegenübersteht, durchaus vergleichbar, lediglich die Denkformen waren anders. Beide Richtungen aber kennen einen Ausdruck sehr wohl: Ermächtigung – das Überlegenheitsgefühl, welches damit einhergeht, dass man zu den Erwählten gehört. So wurde seinerzeit sogar das Ziel der klassenlosen Gesellschaft zum Königsweg, den nur die Elite der «cognoscenti» beschritt.

Wenn sich der rebellische Geist der Jugend mit der geistigen Prägung der Medresse verbindet, sind zerstörerische Energien leicht zu mobilisieren. Der Traum von Utopia rechtfertigt alle Greuel – oder zumindest lassen diese sich im Namen vermeintlicher «Notwendigkeit» plausibel machen. Wenn man nun einer Enklave des Terrors den Namen «Staat» zugesteht, einzig weil sie sich selbst mit diesem schmückt, dann ist das letztlich ein Einknicken vor dem Gegner. Denn in diesem «Staat» finden rastlose, unzufriedene Jugendliche ein real existierendes Ziel, das sie ansteuern, ein alternatives Bürgerrecht, das sie einfordern können; sie können ihre Vergangenheit und Gegenwart wegwerfen wie einen dreckigen Lumpen, um stattdessen die Standarte des Kriegers zu ergreifen. Sie sind Bürger einer neuen «Weltordnung», die alles andere als eine solche ist: eines Staates, in dem das Ausleben der niedrigsten Instinkte ein Bürgerrecht ist, welches den Kämpfern Allahs zusteht.

Stellen Sie sich vor, dass einer dieser frustrierten, nach Ermächtigung hungernden Jugendlichen auf allen Medienkanälen hört, dass der sogenannte «Islamische Staat» wieder einmal einen Mitarbeiter einer Hilfsorganisation ermordet – Verzeihung: «exekutiert» – hat. Er wird mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, dass sein Staat das jedem Staat zustehende Recht ausgeübt hat, einen Feind zu exekutieren. Der nüchterne Blick, der einfach konstatiert, dass ein paar Geistesgestörte gerade einen unschuldigen Menschen abgeschlachtet haben, ist ausgeblendet; in den Augen des Jugendlichen hat seine Nation sich auf legitime Art eines Verräters, eines Infiltranten, eines Schuldigen entledigt; sie hat im Angesicht der Welt ihr Recht auf Selbstschutz und ihre Souveränität manifestiert. Natürlich lässt sich die Wirkung solcher Gedankengänge nicht genau quantifizieren, aber ihr Risikopotenzial sollte nicht ausser Acht gelassen werden.

Die Anerkennung, die dem «Islamischen Staat» quasi gedankenlos gezollt wird, haben die Nigerianer den einheimischen Terroristen verweigert. Nein, ihr seid weder ein Staat noch ein Kalifat. Ihr seid Aufklärungsverweigerer, die es sich zur ersten Pflicht gemacht haben, alles zu zerstören, was mit Wissen und Kreativität zu tun hat, all das, wofür Bücher stehen. Boko Haram. Nennt euch, wie ihr wollt, eure nigerianischen Landsleute haben keinen andern Namen für euch als Boko Haram. Leider sind wir den Terror damit noch bei weitem nicht losgeworden, aber der Kampfgeist hat in der restlichen Bevölkerung Wurzeln geschlagen, und das ist ein nicht zu unterschätzender Faktor.


aus dem Englischen übersetzt von as.


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Nicht vergessen: Diesen Mittwoch Weiterbildung zu Klassengrat und Demokratie

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